„Zu Goethes Geburtstag…“

Weimar heute: was zu verwerten ist
(in memoriam 28. August 1749)

Der Markt
ist unerbittlich: Am Markt
stehen die Touristen-Droschken
gereiht,
komfortabel und sicher
(vier Scheibenbremsen!),
der Kutscher selbst
anekdotenprall
im historischen Outfit
mit sauberen Pferden, deren Äpfel
umweltfreundlich
in lederne Auffangbehälter
zwischen die Deichseln fallen.
Gingko-Grüße in alle Welt!
Man feiert Kultur,
Kultur macht feiern:
„Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein!“ (Slogan nach Goethe)
Gegenüber Schillers Wohnhaus
eine Gelateria (gerühmt), ein Türke (Pide und Sac nicht schlecht)
Filialen von Ketten wie überall
im wiedervereinigten Blühe-Deutschland:
vor Goethe am Frauenplan
mehr fast-food und Take-aways, aber auch
das Unverzichtbare: Rotkohl, Thüringer, Klöße.
Zwischen den Domizilen
der Dioskuren
Hypovereinsbank und Müller-Markt („Hier kauf ich ein…“: s.o.)
Doch überall, allüberall
Kultur, Kultur!
Man feiert Kultur!
Kultur macht feiern!
Die Sprüche von heute
auf den Gehwegen:
„List. Lust. Lost“;
„Mitunter ist ein Schnürsenkel länger als der Orgasmus beispielsweise!”
kontrastieren merkwürdig mit den Sprüchen von gestern:
„Gegen das Schweigen und
das Getöse
erfinde ich
das Wort.“ (Octavio Paz)
Der Kapitalismus
- der mit dem unerbittlichen Markt –
hat gesiegt,
vorläufig zumindest. Daran ändert auch
der Wahlkampf nichts,
wo unerbittlich
vom bald wieder wachsenden Markt
gesprochen wird
mit Getöse
(- Schweigen - ?)
Getöse, Getöse
und Ginkgo-Grüßen in alle Welt.

KI (Künstliche Intelligenz) schreibt ein Sonett über „Helmut Kohl“

KI und die ihr nachgesagten Fähigkeiten, schon Abituraufsätze oder gar Doktorarbeiten erzeugen zu können, die sich nicht mehr von „authentischen“, also mit individueller menschlicher Intelligenz verfertigten, unterscheiden lassen, ist in aller Munde. Insofern ist es an der Zeit, ihr Leistungsvermögen auf den Prüfstand zu stellen. Also KI, schreibe uns ein perfektes Sonett zum Thema „Helmut Kohl“.

Im beigefügten PDF-Dokument erfahren Sie, was dabei heraus kam.

Lieben mit Catull

Diese Liebesgedichte sind in den 1970er bis 1990er Jahren aus Begeisterung für die zarten Kreationen des römischen Dichters Catull (1. Jh. v. Chr.) entstanden. Sie bilden den sogenannten phaläkischen Vers nach, das laut wikipedia bei Catull „am häufigsten verwendete Versmaß“.

In Johannes Secundus (1511 – 1536) wird auch eines weiteren großen Liebesdichters gedacht, der „in Nachahmung Catulls das Sujet des Kusses behandelt. Zu den Themen zählen die natürliche Fruchtbarkeit, die ‚Arithmetik des Kusses‘, Küsse als Nahrungs- und Heilquelle, Küsse, die Verwundungen oder Tod bringen, und der Seelentausch durch das Küssen.“ (wikipedia)

1
Verlockung zur Treue

(im Jahr der Trennung 1976, als seine Liebste in Wales war)

Liebes Annchen, ich weiß, die lautre Freud sind
Exerzitien nicht, doch Fleiß und Anstand
schätzt die Mutter, das Schulamt tut’s nicht minder.
Drum, mein Annchen, getrost im fremden Lande,
sind auch blühende Knaben knapp geworden,
ach, und werden gesucht hier! Ja, mein Annchen,
lies ein Büchlein und schreib dem Liebsten häufig,
schreib ihm ehrlich: Am Ort, wo ich den Bleistift
spitze, leben sie nur von Tee und Weißbrot,
niemals feurigen Wein in Geist und Gliedern.

Zwölf phaläkische Burschen send ich Annchen,
Diener, artige Helfer und Begleiter!
Halten zweie den Spiegel ihr zur Seite,
zu bescheidnem Frisürchen rät ein dritter.
Einer füllt ihr den Federhalter täglich,
und es sorgt für das Löschpapier der fünfte.
Zweie stehen bereit, in Leid und Sehnsucht
sie zu trösten, und treu sein lehrt der klügste.
Viere aber wie Tauben ziehen heimlich,
ziehen ihr Gedanken heim zum Liebsten,
wenn sie liegen, gefaltet als ein Brieflein,
ihr das tägliche Brötchen zu versüßen.

2
An die Freunde

(als sie unverhofft ins Zimmer traten)

Nun, verhehlen, ihr Freunde, werd ich’s keinem,
dass ich gestern im Arm des Kinds geschlummert
und sie selber in festen Schlafesarmen
an der breiteren Brust sich mir bewegte,
denn ihr wart’s doch, die plötzlich in der Türe
standen, gaffend noch eins so lange! Sagt mir,
wart ihr viele? Zuerst, mir deucht’ es, zweie
kamt ihr, stolpernd – ich sah’s mit halbem Auge –
aber bald schon, o Wunder, schien mir’s eben,
vier und sieben erschient ihr, und nicht fasste
bald die Türe das Brustbild eines jeden:
Also wart ihr gewachsen zwanzigköpfig,
also quollt ihr wie zwanzig nasse Blumen
auf und meiner Geliebten hin zu Ehren!
Nun, so will ich euch artig denn erwidern:
Dass ich Ärmster gleich so viel Freunde habe,
werd‘ ich niemals begreifen, schlief doch selig,
ein Gefangener in so süßen Fesseln,
dass ich gerne noch mal gewesen wäre,
zu genießen das Kind und mich wie ihr dort,
ja, ich neidete euch den bessern Standort,
nur: mir lagen die Locken auf den Armen,
nur: mir lieblicher blies ihr süßer Atem,
mir nur schwoll diese zarte Brust entgegen,
dass ich Ärmster gleich so viel Freunde habe.

3
Mein weiches weiches Glück

Sieh das Bänkchen! Wie trocken ist’s, wie luftig!
Liegt geschützt unter starken Tannenbüscheln.
Ist die Stelle nicht wert, allhier zu rasten
und ein kürzeres Stündchen hinzuküssen?
Küsst nicht alles umher? Und sollten’s wir nicht?
Sieh die Äste zur Rechten, Kind. Sie lehnen
aneinander, ein Moos verbindet beide.
Ah, sie küssen mit pflanzenweichen Lippen,
oh, sie trinken gemeinsam ihre Säfte!
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Sieh, zu unseren Füßen schlürft die Tulpe
jedes einsame Tröpfchen süßen Taues
und umschließt es mit Blütenblätterarmen.
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Hinter uns in dem Bächlein küsst die Welle
unablässig den bunten Kiesel runder,
und er dreht sich vor Freude schnell und schneller,
lacht und hüpft über alle seine Brüder!
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Sieh, wie eckig dein Liebster ist, die Nase
ragt ihm aus dem Gesicht so steil verhärtet.
Wieviel Küsse bedarf’s noch, ach wie vieler
Zungenküsse, bis endlich seine Miene
weich genug ist, sein Auge lautres Glück spricht.

4
Die Zwillingskirschen

Ach, die Blüten sind fort! Die grause Sonne
brannt’ vom Baum sie herunter – welche Hitze
peinigt nun diese armen Wiesenhalme!
Sieh, ein solcher, er neigt sein müdes Stengel-
haupt und harrt auf sein gelbes Schicksal. Wehe!
Komm, mein Mädchen, wir haben’s gut, wir können
kommen, wir sind beweglicher geschaffen…
Seinen breiteren Schatten wirft der dicke
Kirschbaum hin, dass wir dort den Mittag über-
dauern, wenig nur ausruhn, halb schon schlafen.
Und die Liebste – ich sag es kaum – schon liegt sie,
lehnt ihr Köpfchen am dicken Knotenstamme,
dass mir kaum noch ein Rastplatz will verbleiben.
Ob er weicher geworden ist, der wüste
Rindenrohling? Ob Mädchenlast ihn rührt und
zartes Moos ihm aus allen Ritzen vorzieht
und zum duftigen Kissen aufbereitet?
Solches kreist mir im Kopf, doch ich verzeih‘ mir
leichtlings dies, wenn ich so wie heute lieg‘ in
bodenständiger Grashalmperspektive.
He! Wer wagt da zu sprießen – wo mein Auge
durch die Zweige nach oben in das Blaue
fortwill? Wahrlich, da reifen ja die Kirschen!
Oh, da mag ich mich länger kaum enthalten,
von den lieblichen Dualismen nicht zu
brechen! Schmücke damit das pralle Leben!
Sacht, ganz sachte, dass sie nicht aufwacht, zieh‘ ich
die vau-förmigen Stengel hinters Ohr ihr.
Schau, sie bleibt sich im Traum, ich selber aber
bin ihr spielender nah und hab ein hübsches
früchtesprechendes Zwillingskirschenweltbild.

5
Auf eine Eieruhr

(ein dialektisches Spielchen)

Galtest stets mir als Sinnbild der Vermittlung!
Engschlauch zart, der das positive Sändchen
rieseln lässt in das untre negative!
Ei, so werde dein andres, aber bleibe
auch dein eignes, verläng’ dich durch die Mitte
deinem Unteren zu, den Kegel bildend.
Umgedreht! Dass du wieder rinnest, wieder
dialektisch‘ Verständnis nieder rieselst!
Umgedreht! Und von Neuem zeig‘, wies trichtert,
hab dein Wesen noch lang nicht eingetrichtert,
pulsen nur in verdünnter Röhre fühl ich’s,
und ich sehe dir an, du tust desgleichen!
Ja, die Schwerkraft darf niemals dich bezwingen,
dieses fühl ich sehr wohl, und es bedeutet:
Umgedreht! und so weiter fort. Indessen
ist mein Ei mir granatenhart geraten.

6
Verwirrung

Nicht mehr find ich im Raume mich zurecht jetzt.
Alles bietet sich reinlich hergerichtet.
Hat mein Mädchen hier etwas weggenommen?
Sieh, da liegt noch gesammelt die Gerätschaft,
Bürsten, Wischtücher, mehr – ein ganzer Haufen
solchen Werkzeugs. Doch wo sind meine Sachen,
wo die letzten Papiere, wo der Pappstreif,
drauf ich halb den Catullus abgeschrieben?
Wo sind all die herausgelösten Seiten
des Johannes, des größten Küssers vor mir,
wo die Versmaße hin? – Die ganze Wirtschaft
ist verstellt. Die Lektionen aber, die sind
hübsch gefaltet, in Stapeln, Mappen, Fächer
übersichtlich und sauber eingeordnet.
Hat mein Mädchen mit Absicht hier gewütet,
ihren goldenen Maßstab liegen lassen?
Seh‘ ich nur, wie hier ihre Leidenschaft die
meine völlig besiegt hat, möcht ich’s glauben.

7
Die Freier

(aus den verrückten siebziger Jahren)

Viele herrliche Freier zählt mein Mädchen:
Buntbehemdet kommt einer, Ketten klimpern,
die er trägt an den Armgelenken lässig;
von der Sonne erzählt er und vom Süden,
Stränden, springenden Kokosnüssen, wo man
lutscht Likör aus Melonenschalen – super!
Spricht ein andrer von Menschen fern in Indien,
goldnen Tempeln und echter Selbsterfahrung;
Räucherstäbchen und Jutetäschchen schenkt er,
grünen Tee und gerollte Zigaretten,
alles reine Naturprodukte – endlich!
Und er tut ganz erlöst und lacht nach innen,
müßig murmelnd sein monotones Mantra.
Einer schaut immer schräg und zupft am Ärmel
und am Bart sich und kommt mit tiefen Augen,
aber ohne Gitarre nie und spielt ein
schwüles Liedchen (vom smarten Cohen meistens).
Später spricht er gedämpft von seinen Ängsten
früher, aber er fühlt sich jetzt schon besser…
Ein Japaner ist auch dabei, Geräte
bringt er mit, voller Mikroprozessoren,
und dann tönen kristallklar die Geräte,
und dann lächelt kristallklar der Japaner,
lobt die Deutschen und ihre Komponisten
lobt, verstummt und verneigt sich tief, als ob ihm
ein Scharnier in der Wirbelsäule stecke.
Glaubt, ich hätte die Burschen längst verprügelt,
sprächen sie auch nur einmal mit dem Mädchen.

Dirk Schindelbeck, 1978 – 1993

Zwei Glossen auf Friedrich Schiller, den „Moraltrompeter von Säckingen“

Die literarische Versglosse, noch im 19. Jahrhundert recht verbreitet, ist gänzlich aus der Mode gekommen. Dabei wählt der Autor in satirischer Absicht ein Zitat aus dem lyrischen Erbe und versucht, es in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, indem er die Vorlageverse am Ende einer jeweils 10-versigen, meist trochäischen, Strophe aufnimmt und karikiert. Bei den in meine folgenden Versglossen eingestreuten Abbildungen handelt es sich um sogenannte Seriennotgeldscheine aus den Jahren 1920 – 1922. Dazu erscheint im April 2021 mein Buch „Notgeld. Zu schön, es auszugeben“ (168 S., 253 farbige Abb., Jonas-Verlag Weimar, ISBN978-3-89445-584-2).

Warum Schiller sich zur Versglosse besonders gut eignet?

Schon Georg Büchner mokierte sich über die gespreizten, aus seiner Sicht „falschen“ Helden Friedrich Schillers. Noch härter mit dem Weimarer Klassiker ging Friedrich Nietzsche ins Gericht und stellte ihn in die Reihe seiner „Unmöglichen“ (F.N.: Götzendämmerung: Streifzüge eines Unzeitgemäßen 1). Es war vor allem die blecherne Rhetorik, die angestrengt-übertriebene Pose, die in Nietzsches Augen immer in Gefahr war, den gesucht-heldenhaften Gestus ins Komische, ja Lächerliche umschlagen zu lassen… (Ein paar diesbezügliche Zitate gefällig? – „Ehret die Frauen. Sie flechten und weben / himmlische Kränze ins irdische Leben“; „Ans Vaterland, ans teure, schließ‘ Dich an…“ Die Szene wird zum Tribunal“ etc. etc. etc.) In Anlehnung an das zu Nietzsches Zeiten sehr populäre Versepos Joseph Victor von Scheffels „Der Trompeter von Säckingen“ („…er war nur ein Trompeter, und doch bin ich ihm gut…“) verspottete er Schiller als seinen „Moraltrompeter von Säckingen“.

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Wen der Fruchtprinz ruft

In Memoriam Friedrich Wilhelm Ortmeyer

Novelle

Hier sind lediglich Auszüge wiedergegeben.
Wer am Gesamttext Interesse hat, wende sich bitte an
mich.

Kapitel 1

 DerAbgehalfterte war Gentleman geblieben, fast Grand­seigneur. Gescheitert nur ander Benutzeroberfläche. Dieser Irrsinn heute! Der Trasimenosee ruhte still. Eine Terrasse in Passignano. Und der Herbst heiter, ohne die feuchtkalte Heimtücke wie zuhause. Campari, was sonst. Wie die Früchte hier um die Wette prahlten: dieses Licht machte alles so leicht. Licht und Luft, welch göttliche Produkte.Ei­gentlich gab es keine Einsamkeit in Italien, nur Lässigkeit, vielleicht gar Gelassenheit. Auch die Zeit hatte ein anderes Maß. Wie bei Rilke: Vom Hang desApennins tragen sie dir dein Sagen zu, das dann…

Manchmal kamen ihm jetzt solche Verse hoch, von ganz unten, ganz weit. Unwillkürlich befühlte er sich, vom Hals an aufwärts, der innen ganz trocken war. Campari, was sonst. Hier ließ sich herumwandern, Kraft tanken. Was be­wegte die Menschen, was machte sie zögern, zugreifen, kaufen? Er wusste es nicht mehr, Otmar wusste nichts mehr. Er, der sich ortlos vorkam, fühlte, dass er gerade darum hierhergekommen war, an diesen sanften, hellen und starken Flecken. Natürlich hatte ervon Franz von As­sisi gehört, der einst hier gelebt und das Städtchen, aus dem er stammte, so berühmt gemacht hatte. Auch das grö­ßere Perugia war ja nicht weit mit seinen unterirdischen Gewölben, da war vielleicht sogar etwas los inden Cafés, auf den Straßen, abends. Auch auf der Isola Majore war er schon gewesen, mitten im See. Auf dem Inselhügel dieses alte Schloss, verwunschen wie in „Vom Winde verweht“, welch großartige Szenerie. Dann der Blick von oben über das Wasser, auf diese Friedenslandschaft, den Fischerha­fen. Dagegen Frankfurt: Virtuelle Interface-Geschichten: was sie heute nicht alles machten. Irgendwiehohl, durch­gedreht, ohne Sinn und Menschenbindung. Der Benutzer verändert den Markenkern, bastelt sich seine Werbung selbst, am PC: ver­rückt. Campari!

Die Statue des heiligen Franz, ein alter Leuchtturm. Noch war er gar nicht richtig hier, da wusste er schon, dass er diese Landschaft für immer liebte. Diese pralleSinnlichkeit und die Unbedingtheit, mit der alles draußen war, öffentlich. Das Leben selbst in seine Farben vernarrt. Hier eine Agentur aufmachen? Oder nur ein ganz anderer sein? Sich selbst verwechseln. Doch er war ja an der Benutzeroberfläche ge­scheitert. Schluss jetzt, endlich, basta. Campari.

Abgehalftert mit einer Abfindung! Er, der 59 als Drücker angefangen hatte, erfolgreich wie keiner damals. Sich früh ein Ziel definiert, wo ihm niemand hineinreden konnte.Sich zur Marke gemacht, fest und kompakt. Fast immer richtig ge­führt! Mit wachem Bewusstsein. Stufe für Stufe nach oben, damals, immer nah am Kunden. Schon 68 eine ganze Etage gemietet, für seine Agentur. Kampagnen vom Feinsten: „Hilft dem Vater auf das Fahrad.“ Fahrad mit nur einem R.  2000 Studienrätehatten Briefe geschrieben, entrüstet: fal­sche Orthographie, Schande für Deutschland. Grandios die Borniertheit deutscher Beamter. So leicht auszurechnen. 1970 sogar im Spiegel zitiert: Die Avantgarde der Werber, die Creme der Branche, die kommenden Kreativen. O wie lange her. Sie hatten in den Agenturen heute doch gar keine Kraft des Durchhaltens mehr, machten sich selbst kaputt vor lauter Hektik.

Abgehalftert mit einer Abfindung. Was würde bleiben von ihm? Er hatte den Fruchtprinzen erfunden, diese wunder­bare Figur. Voller Poesie. Die Kinder liebten ihn. Aber was hatten sie daraus gemacht! Wie lange würde die Abfin­dung reichen? Ein Jahr oder zwei? Hier wahrscheinlich noch länger. Und dann? Seinen Selbstmord planen,als ei­nen ganz großen finalen Auftritt? Oder eine Frau umwer­ben? Das Werben üben, ganz von vorn, ein letztes Mal, ein einziges Mal vollendet werben. Augen,Haare und Lippen, alles charmant umwerben, und natürlich den Busen, die Beine, das schwarze Dreieck. Alles richtig erfassen, traum­haft richtig anfassen. Die Kultivierung der Gefühle, der ge­nerösen, der heißen, als Komposition wie beieinem großen Gemälde. Ein Maximum an Energie an eine Frau ver­schwenden… An der Benutzeroberfläche gescheitert: was für ein Irrsinn! Campari!

An gutenVorbildern wachsen. Am Werbewerk des Franz von Assisi. Sich hinter Klostermauern seinen Gläubigern entziehen, um dort zu einer ganz großen Nummer heran­zureifen. Grandios. Franz, der frühe Meister des Marketing. Wie Jesus,der Menschenfischer. Warum verstand das kei­ner? Keiner mehr? UnglaublicheZeiten. Natürlich hatte er den einen oder anderen Ferrari gefahren. Und Venus er­obert mit ihren Hügeln und süßen Grübchen. Ach, Venus, die kurzen Wochen mit ihr, so dicht, so tief, so lange her. Immer ging alles zu schnell, sprang aus der rasenden Bahn. Fortgerissen vom Strudel, vom Sog, ab in den Zeit-Gulli. Weg vom Fenster, immer drückten sie sich alle weg von den Fenstern. Und er? Er fiel hinaus, ins Bodenlose, in die Tiefe. Auf die Wasserfläche des Sees sah er plötzlich Kinder einen Plastikbecher ins Wasser werfen. Unendliche Trau­rigkeit überkam ihn. Wie der Becher auf dem Wasser tanzte, wippte, langsam, unendlichlangsam auf den See hinaustrieb, entschwand.

War er der Fruchtprinz – oder nur der Fruchtzwerg? Er wusste es nicht. Abgehalftert und mit einer Abfindung. Allein seine unbeholfenen Versuche, italienisch zu lernen. An der Benutzoberfläche gescheitert, auch hier. Schau, über ihm die Mama, leidenschaftlich aus dem Fenster die Söhne zum Essen rufend. Italien, die Riesentomate. Liebe ist, wenn es Landliebe ist… Enoteka, Enoteka… Elite und Masse, was war er, wo stand er? Beeinflusser, Beeinfluss­ter? Beides? Was wusste er vom einen, vom andern? Ein­fach werden, primitiv, sich verwechseln, radikal, ein Massengehirn werden. „Aber ich bin ein anderer!“ hatte er irgendwo gelesen. Rimbaud? Vielleicht. Campari, Campari. So träumte er hin…         

*

Düsseldorf – Basel im „Rheingold“-Salonwagen

Zug der Züge – nobel reisen,
und flussaufwärts im Salon-
Wagen formidabel speisen,
Rheinanrainer im Waggon.

Draußen liegen in den Wiesen
Kuhgeschwader, Landschaft quillt
hemmungslos in Kohlgemüsen
als ein grünes Genrebild.

Dörfer dampfen in den Senken,
hier ein Feldkreuz, dort ein Steg.
Telegrafenmasten lenken
Drähtebündel längs und schräg.

An den Leinen Hosen knattern,
Kissen protzen, aufgebauscht –
achtzig Achsen aber rattern,
Wühlerwind am Fenster rauscht.

Bäume scheinen abzubrennen
Blütenfeuer weiß und rot.
Felder wandern, Feldchen rennen,
Hasen fliehn in Todesnot.

Uns doch leiten Weichen weiter
zu den Metropolen hin,
wächst herauf ein Glockenreiter,
Krähenschwärme drüber ziehn.

Jetzt gesellen sich uns Mauern,
Ziegelmuster rot und klein,
Augenblicke nur zu dauern,
rückgelassene zu sein.

Tausende von Fenstern stürmen,
namenlose, auf uns ein.
Hunderte von Dächern türmen
über uns Gesimsestein.

Und ein Rauschen wird, ein Ziehen
stark und stärker, und wir sehn
all die Fenster rückwärts fliehen,
laufen, gleiten, schweben, stehn.

Meer von Köpfen, Kleidern, Hüten,
Blumensträußen, Eis, Gepäck,
Zeitungen und Plastiktüten –
Arme heftig winkend – weg.

Wieder weiter! Und die Gleise
schmiegen sich dem Strombett an,
Rebenhänge dämmern leise,
Möven auf dem Lastenkahn.

Landschaft modelt sich gefällig,
Hügel drehn sich her und fort,
Wiesen steigen, fallen wellig,
dort wird hier und hier wird dort.

Burgen stolze Flaggen recken,
Wolken gravitätisch ziehn,
Schatten jagen Sonnenflecken,
und im Strom des Rheingolds Glühn.

Und dann öffnet sich die Weite
unvermutet, hell und neu,
Wege leitend an der Seite,
hei, dem Gleis schon nicht mehr treu.

Aufgereiht wie Perlen, locker
Rollen Blechkolonnen mit,
rot und weiß und blau und ocker –
halten ja schon nicht mehr Schritt.

Horch! Auf einmal rast ein heller
Ton heran, halb Pfiff, halb Schrei,
fortzufliehen wie ein schneller
Gegenzug – vorbei, vorbei.

Und die Landschaft, mild und südlich
schwenkt uns ins Abteil ihr Obst,
macht uns willig, schläfrig, friedlich –
Saug’s doch ein, was du so lobst!

Durch die Ortenau bis Basel
geht die Fahrt und endet wo?
Wohin Nietzsche vorm Gefasel
deutscher Professoren floh.

Die Zeilen, die Nietzsche bei seiner Antrittsrede an der Universität Basel an die Stadt richtete (1869), sprechen Bände:

In Basel steh ich unverzagt
Doch einsam da – Gott sei’s geklagt.

Und schrei ich laut: Homer! Homer!
So macht das Jedermann Beschwer.

Zur Kirche geht man und nach Haus
Und lacht den lauten Schreier aus.

Jetzt kümmr‘ ich mich nicht mehr darum:
Das allerschönste Publikum

Hört mein homerisches Geschrei
Und ist geduldig still dabei.

Zum Lohn für diesen Ueberschwank
Von Güte hier gedruckten Dank.

Mit 24 Jahren wurde Friedrich Nietzscheaus Deutschland an die Universität Basel berufen, wo er schließlich zehn Jahrelang unterrichtete. Gekommen war er der Philosophie wegen, den Lehrstuhl hatihm die Universität Basel aber nie gegeben. Stattdessen unterrichtete erKlassische Philologie an der Uni und lehrte am heutigen Gymnasium amMünsterplatz. Beim «Basler Daig» war er gerne gesehen, bei den Studenten undSchülern war er beliebt, trotz eher trockener Vorlesungen.

Im langen Schatten des Kölner Doms

Installation von Dirk Schindelbeck. Fleischfarbig gespritztes Papiermodell in rosa Damen-Dessou XXL


„Tutti frutti“
(In memoriam der von Hugo Egon Balder moderierten ersten Striptease-Show
im Deutschen Fernsehen: RTL 1993)
 
 
„Ihr süßen Früchtchen ihr, ihr Kiwis herb und grün,
Zitronen, Ananas – wer will euch nicht vernaschen?
Schon steht im kurzen Kleid und rosa Herzchen-Taschen
Yvonne aus Aplerbeck an unsrer Slot-maschine,
 
kriegt tausend Punkte nur. Auf, zeig dich, Tänzerin!
Da weiß man, was man(n) hat. Jetzt öffnet sie die Laschen,
noch nicht, noch nicht so ganz. Oh dickes Überraschen:
Was kugelt da hervor im Doppelpack? Chin, chin!
 
Ganz groß, Yvonne, Applaus. Dein Punkte-Konto steigt,
jedoch gewinnt hier nur, wer auch Verstand gezeigt.
Die Frage also heißt: Kommt auch dein Geist auf zack?
 
Wo steht, in welcher Stadt, der Kölner Dom, Yvonne?
Drei kleine Tipps: Sie liegt am Rhein, es ist nicht Bonn,
und die Figur des Doms ist auch ein Doppelpack.“

(Sonett aus Dirk Schindelbeck: Tropfenfänger & kreisende Kolben. Deutsche Marken-Sonette 2.0.15, Freiburg 2015, S. 75)



Nachtblindes Abendlied mit weißem Neger

Beleuchtete Installation (Aluminiumplatte mit LED-Leisten) von Dirk Schindelbeck

Die Installation gibt die erste Strophe von Matthias Claudius‘ Abendlied in Braille-Blindenschrift wieder, allerdings mit einer Variante in der letzten Zeile „der weiße Neger Wumbaba“, so wie es viele Kinder gesungen haben.
Vgl, hierzu: Axel Hacke/Michael Sowa: Der weiße Neger Wumbaba. KLeines Handbuch des Verhörens, München 2004, S. 12. 

„Automaten-Sonett“

barcode

spreewaldgurken. mittel. glas.
apfelessig. standard. flasche.
fruchtquark. einfach. ananas.
h-milch fünfmal. tragetasche.

dosenerbsen. meisterbrand.
blütenhonig. rumpralinen.
nächster kunde. apfelsinen.
rückvergütung. flaschenpfand.

scanner scannt scannt scannt bequem
barcode – barcode – barcode ein.
siebzehnneunzig. addition.

kundenkarte? angenehm.
eingelesen. parkhausschein.
Kasse klingelt: bon – bon – bon.