Lieben mit Catull

Diese Liebesgedichte sind in den 1970er bis 1990er Jahren aus Begeisterung für die zarten Kreationen des römischen Dichters Catull (1. Jh. v. Chr.) entstanden. Sie bilden den sogenannten phaläkischen Vers nach, das laut wikipedia bei Catull „am häufigsten verwendete Versmaß“.

In Johannes Secundus (1511 – 1536) wird auch eines weiteren großen Liebesdichters gedacht, der „in Nachahmung Catulls das Sujet des Kusses behandelt. Zu den Themen zählen die natürliche Fruchtbarkeit, die ‚Arithmetik des Kusses‘, Küsse als Nahrungs- und Heilquelle, Küsse, die Verwundungen oder Tod bringen, und der Seelentausch durch das Küssen.“ (wikipedia)

1
Verlockung zur Treue

(im Jahr der Trennung 1976, als seine Liebste in Wales war)

Liebes Annchen, ich weiß, die lautre Freud sind
Exerzitien nicht, doch Fleiß und Anstand
schätzt die Mutter, das Schulamt tut’s nicht minder.
Drum, mein Annchen, getrost im fremden Lande,
sind auch blühende Knaben knapp geworden,
ach, und werden gesucht hier! Ja, mein Annchen,
lies ein Büchlein und schreib dem Liebsten häufig,
schreib ihm ehrlich: Am Ort, wo ich den Bleistift
spitze, leben sie nur von Tee und Weißbrot,
niemals feurigen Wein in Geist und Gliedern.

Zwölf phaläkische Burschen send ich Annchen,
Diener, artige Helfer und Begleiter!
Halten zweie den Spiegel ihr zur Seite,
zu bescheidnem Frisürchen rät ein dritter.
Einer füllt ihr den Federhalter täglich,
und es sorgt für das Löschpapier der fünfte.
Zweie stehen bereit, in Leid und Sehnsucht
sie zu trösten, und treu sein lehrt der klügste.
Viere aber wie Tauben ziehen heimlich,
ziehen ihr Gedanken heim zum Liebsten,
wenn sie liegen, gefaltet als ein Brieflein,
ihr das tägliche Brötchen zu versüßen.

2
An die Freunde

(als sie unverhofft ins Zimmer traten)

Nun, verhehlen, ihr Freunde, werd ich’s keinem,
dass ich gestern im Arm des Kinds geschlummert
und sie selber in festen Schlafesarmen
an der breiteren Brust sich mir bewegte,
denn ihr wart’s doch, die plötzlich in der Türe
standen, gaffend noch eins so lange! Sagt mir,
wart ihr viele? Zuerst, mir deucht’ es, zweie
kamt ihr, stolpernd – ich sah’s mit halbem Auge –
aber bald schon, o Wunder, schien mir’s eben,
vier und sieben erschient ihr, und nicht fasste
bald die Türe das Brustbild eines jeden:
Also wart ihr gewachsen zwanzigköpfig,
also quollt ihr wie zwanzig nasse Blumen
auf und meiner Geliebten hin zu Ehren!
Nun, so will ich euch artig denn erwidern:
Dass ich Ärmster gleich so viel Freunde habe,
werd‘ ich niemals begreifen, schlief doch selig,
ein Gefangener in so süßen Fesseln,
dass ich gerne noch mal gewesen wäre,
zu genießen das Kind und mich wie ihr dort,
ja, ich neidete euch den bessern Standort,
nur: mir lagen die Locken auf den Armen,
nur: mir lieblicher blies ihr süßer Atem,
mir nur schwoll diese zarte Brust entgegen,
dass ich Ärmster gleich so viel Freunde habe.

3
Mein weiches weiches Glück

Sieh das Bänkchen! Wie trocken ist’s, wie luftig!
Liegt geschützt unter starken Tannenbüscheln.
Ist die Stelle nicht wert, allhier zu rasten
und ein kürzeres Stündchen hinzuküssen?
Küsst nicht alles umher? Und sollten’s wir nicht?
Sieh die Äste zur Rechten, Kind. Sie lehnen
aneinander, ein Moos verbindet beide.
Ah, sie küssen mit pflanzenweichen Lippen,
oh, sie trinken gemeinsam ihre Säfte!
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Sieh, zu unseren Füßen schlürft die Tulpe
jedes einsame Tröpfchen süßen Taues
und umschließt es mit Blütenblätterarmen.
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Hinter uns in dem Bächlein küsst die Welle
unablässig den bunten Kiesel runder,
und er dreht sich vor Freude schnell und schneller,
lacht und hüpft über alle seine Brüder!
Küsst nicht alles? Und sollten wir nicht küssen?
Sieh, wie eckig dein Liebster ist, die Nase
ragt ihm aus dem Gesicht so steil verhärtet.
Wieviel Küsse bedarf’s noch, ach wie vieler
Zungenküsse, bis endlich seine Miene
weich genug ist, sein Auge lautres Glück spricht.

4
Die Zwillingskirschen

Ach, die Blüten sind fort! Die grause Sonne
brannt’ vom Baum sie herunter – welche Hitze
peinigt nun diese armen Wiesenhalme!
Sieh, ein solcher, er neigt sein müdes Stengel-
haupt und harrt auf sein gelbes Schicksal. Wehe!
Komm, mein Mädchen, wir haben’s gut, wir können
kommen, wir sind beweglicher geschaffen…
Seinen breiteren Schatten wirft der dicke
Kirschbaum hin, dass wir dort den Mittag über-
dauern, wenig nur ausruhn, halb schon schlafen.
Und die Liebste – ich sag es kaum – schon liegt sie,
lehnt ihr Köpfchen am dicken Knotenstamme,
dass mir kaum noch ein Rastplatz will verbleiben.
Ob er weicher geworden ist, der wüste
Rindenrohling? Ob Mädchenlast ihn rührt und
zartes Moos ihm aus allen Ritzen vorzieht
und zum duftigen Kissen aufbereitet?
Solches kreist mir im Kopf, doch ich verzeih‘ mir
leichtlings dies, wenn ich so wie heute lieg‘ in
bodenständiger Grashalmperspektive.
He! Wer wagt da zu sprießen – wo mein Auge
durch die Zweige nach oben in das Blaue
fortwill? Wahrlich, da reifen ja die Kirschen!
Oh, da mag ich mich länger kaum enthalten,
von den lieblichen Dualismen nicht zu
brechen! Schmücke damit das pralle Leben!
Sacht, ganz sachte, dass sie nicht aufwacht, zieh‘ ich
die vau-förmigen Stengel hinters Ohr ihr.
Schau, sie bleibt sich im Traum, ich selber aber
bin ihr spielender nah und hab ein hübsches
früchtesprechendes Zwillingskirschenweltbild.

5
Auf eine Eieruhr

(ein dialektisches Spielchen)

Galtest stets mir als Sinnbild der Vermittlung!
Engschlauch zart, der das positive Sändchen
rieseln lässt in das untre negative!
Ei, so werde dein andres, aber bleibe
auch dein eignes, verläng’ dich durch die Mitte
deinem Unteren zu, den Kegel bildend.
Umgedreht! Dass du wieder rinnest, wieder
dialektisch‘ Verständnis nieder rieselst!
Umgedreht! Und von Neuem zeig‘, wies trichtert,
hab dein Wesen noch lang nicht eingetrichtert,
pulsen nur in verdünnter Röhre fühl ich’s,
und ich sehe dir an, du tust desgleichen!
Ja, die Schwerkraft darf niemals dich bezwingen,
dieses fühl ich sehr wohl, und es bedeutet:
Umgedreht! und so weiter fort. Indessen
ist mein Ei mir granatenhart geraten.

6
Verwirrung

Nicht mehr find ich im Raume mich zurecht jetzt.
Alles bietet sich reinlich hergerichtet.
Hat mein Mädchen hier etwas weggenommen?
Sieh, da liegt noch gesammelt die Gerätschaft,
Bürsten, Wischtücher, mehr – ein ganzer Haufen
solchen Werkzeugs. Doch wo sind meine Sachen,
wo die letzten Papiere, wo der Pappstreif,
drauf ich halb den Catullus abgeschrieben?
Wo sind all die herausgelösten Seiten
des Johannes, des größten Küssers vor mir,
wo die Versmaße hin? – Die ganze Wirtschaft
ist verstellt. Die Lektionen aber, die sind
hübsch gefaltet, in Stapeln, Mappen, Fächer
übersichtlich und sauber eingeordnet.
Hat mein Mädchen mit Absicht hier gewütet,
ihren goldenen Maßstab liegen lassen?
Seh‘ ich nur, wie hier ihre Leidenschaft die
meine völlig besiegt hat, möcht ich’s glauben.

7
Die Freier

(aus den verrückten siebziger Jahren)

Viele herrliche Freier zählt mein Mädchen:
Buntbehemdet kommt einer, Ketten klimpern,
die er trägt an den Armgelenken lässig;
von der Sonne erzählt er und vom Süden,
Stränden, springenden Kokosnüssen, wo man
lutscht Likör aus Melonenschalen – super!
Spricht ein andrer von Menschen fern in Indien,
goldnen Tempeln und echter Selbsterfahrung;
Räucherstäbchen und Jutetäschchen schenkt er,
grünen Tee und gerollte Zigaretten,
alles reine Naturprodukte – endlich!
Und er tut ganz erlöst und lacht nach innen,
müßig murmelnd sein monotones Mantra.
Einer schaut immer schräg und zupft am Ärmel
und am Bart sich und kommt mit tiefen Augen,
aber ohne Gitarre nie und spielt ein
schwüles Liedchen (vom smarten Cohen meistens).
Später spricht er gedämpft von seinen Ängsten
früher, aber er fühlt sich jetzt schon besser…
Ein Japaner ist auch dabei, Geräte
bringt er mit, voller Mikroprozessoren,
und dann tönen kristallklar die Geräte,
und dann lächelt kristallklar der Japaner,
lobt die Deutschen und ihre Komponisten
lobt, verstummt und verneigt sich tief, als ob ihm
ein Scharnier in der Wirbelsäule stecke.
Glaubt, ich hätte die Burschen längst verprügelt,
sprächen sie auch nur einmal mit dem Mädchen.

Dirk Schindelbeck, 1978 – 1993