Wen der Fruchtprinz ruft

In Memoriam Friedrich Wilhelm Ortmeyer

Novelle

Hier sind lediglich Auszüge wiedergegeben.
Wer am Gesamttext Interesse hat, wende sich bitte an
mich.

Kapitel 1

 DerAbgehalfterte war Gentleman geblieben, fast Grand­seigneur. Gescheitert nur ander Benutzeroberfläche. Dieser Irrsinn heute! Der Trasimenosee ruhte still. Eine Terrasse in Passignano. Und der Herbst heiter, ohne die feuchtkalte Heimtücke wie zuhause. Campari, was sonst. Wie die Früchte hier um die Wette prahlten: dieses Licht machte alles so leicht. Licht und Luft, welch göttliche Produkte.Ei­gentlich gab es keine Einsamkeit in Italien, nur Lässigkeit, vielleicht gar Gelassenheit. Auch die Zeit hatte ein anderes Maß. Wie bei Rilke: Vom Hang desApennins tragen sie dir dein Sagen zu, das dann…

Manchmal kamen ihm jetzt solche Verse hoch, von ganz unten, ganz weit. Unwillkürlich befühlte er sich, vom Hals an aufwärts, der innen ganz trocken war. Campari, was sonst. Hier ließ sich herumwandern, Kraft tanken. Was be­wegte die Menschen, was machte sie zögern, zugreifen, kaufen? Er wusste es nicht mehr, Otmar wusste nichts mehr. Er, der sich ortlos vorkam, fühlte, dass er gerade darum hierhergekommen war, an diesen sanften, hellen und starken Flecken. Natürlich hatte ervon Franz von As­sisi gehört, der einst hier gelebt und das Städtchen, aus dem er stammte, so berühmt gemacht hatte. Auch das grö­ßere Perugia war ja nicht weit mit seinen unterirdischen Gewölben, da war vielleicht sogar etwas los inden Cafés, auf den Straßen, abends. Auch auf der Isola Majore war er schon gewesen, mitten im See. Auf dem Inselhügel dieses alte Schloss, verwunschen wie in „Vom Winde verweht“, welch großartige Szenerie. Dann der Blick von oben über das Wasser, auf diese Friedenslandschaft, den Fischerha­fen. Dagegen Frankfurt: Virtuelle Interface-Geschichten: was sie heute nicht alles machten. Irgendwiehohl, durch­gedreht, ohne Sinn und Menschenbindung. Der Benutzer verändert den Markenkern, bastelt sich seine Werbung selbst, am PC: ver­rückt. Campari!

Die Statue des heiligen Franz, ein alter Leuchtturm. Noch war er gar nicht richtig hier, da wusste er schon, dass er diese Landschaft für immer liebte. Diese pralleSinnlichkeit und die Unbedingtheit, mit der alles draußen war, öffentlich. Das Leben selbst in seine Farben vernarrt. Hier eine Agentur aufmachen? Oder nur ein ganz anderer sein? Sich selbst verwechseln. Doch er war ja an der Benutzeroberfläche ge­scheitert. Schluss jetzt, endlich, basta. Campari.

Abgehalftert mit einer Abfindung! Er, der 59 als Drücker angefangen hatte, erfolgreich wie keiner damals. Sich früh ein Ziel definiert, wo ihm niemand hineinreden konnte.Sich zur Marke gemacht, fest und kompakt. Fast immer richtig ge­führt! Mit wachem Bewusstsein. Stufe für Stufe nach oben, damals, immer nah am Kunden. Schon 68 eine ganze Etage gemietet, für seine Agentur. Kampagnen vom Feinsten: „Hilft dem Vater auf das Fahrad.“ Fahrad mit nur einem R.  2000 Studienrätehatten Briefe geschrieben, entrüstet: fal­sche Orthographie, Schande für Deutschland. Grandios die Borniertheit deutscher Beamter. So leicht auszurechnen. 1970 sogar im Spiegel zitiert: Die Avantgarde der Werber, die Creme der Branche, die kommenden Kreativen. O wie lange her. Sie hatten in den Agenturen heute doch gar keine Kraft des Durchhaltens mehr, machten sich selbst kaputt vor lauter Hektik.

Abgehalftert mit einer Abfindung. Was würde bleiben von ihm? Er hatte den Fruchtprinzen erfunden, diese wunder­bare Figur. Voller Poesie. Die Kinder liebten ihn. Aber was hatten sie daraus gemacht! Wie lange würde die Abfin­dung reichen? Ein Jahr oder zwei? Hier wahrscheinlich noch länger. Und dann? Seinen Selbstmord planen,als ei­nen ganz großen finalen Auftritt? Oder eine Frau umwer­ben? Das Werben üben, ganz von vorn, ein letztes Mal, ein einziges Mal vollendet werben. Augen,Haare und Lippen, alles charmant umwerben, und natürlich den Busen, die Beine, das schwarze Dreieck. Alles richtig erfassen, traum­haft richtig anfassen. Die Kultivierung der Gefühle, der ge­nerösen, der heißen, als Komposition wie beieinem großen Gemälde. Ein Maximum an Energie an eine Frau ver­schwenden… An der Benutzeroberfläche gescheitert: was für ein Irrsinn! Campari!

An gutenVorbildern wachsen. Am Werbewerk des Franz von Assisi. Sich hinter Klostermauern seinen Gläubigern entziehen, um dort zu einer ganz großen Nummer heran­zureifen. Grandios. Franz, der frühe Meister des Marketing. Wie Jesus,der Menschenfischer. Warum verstand das kei­ner? Keiner mehr? UnglaublicheZeiten. Natürlich hatte er den einen oder anderen Ferrari gefahren. Und Venus er­obert mit ihren Hügeln und süßen Grübchen. Ach, Venus, die kurzen Wochen mit ihr, so dicht, so tief, so lange her. Immer ging alles zu schnell, sprang aus der rasenden Bahn. Fortgerissen vom Strudel, vom Sog, ab in den Zeit-Gulli. Weg vom Fenster, immer drückten sie sich alle weg von den Fenstern. Und er? Er fiel hinaus, ins Bodenlose, in die Tiefe. Auf die Wasserfläche des Sees sah er plötzlich Kinder einen Plastikbecher ins Wasser werfen. Unendliche Trau­rigkeit überkam ihn. Wie der Becher auf dem Wasser tanzte, wippte, langsam, unendlichlangsam auf den See hinaustrieb, entschwand.

War er der Fruchtprinz – oder nur der Fruchtzwerg? Er wusste es nicht. Abgehalftert und mit einer Abfindung. Allein seine unbeholfenen Versuche, italienisch zu lernen. An der Benutzoberfläche gescheitert, auch hier. Schau, über ihm die Mama, leidenschaftlich aus dem Fenster die Söhne zum Essen rufend. Italien, die Riesentomate. Liebe ist, wenn es Landliebe ist… Enoteka, Enoteka… Elite und Masse, was war er, wo stand er? Beeinflusser, Beeinfluss­ter? Beides? Was wusste er vom einen, vom andern? Ein­fach werden, primitiv, sich verwechseln, radikal, ein Massengehirn werden. „Aber ich bin ein anderer!“ hatte er irgendwo gelesen. Rimbaud? Vielleicht. Campari, Campari. So träumte er hin…         

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